Ist „Übung macht den Meister“ ein Mythos?

Stell dir vor, du bekommst ein einfaches Sudoku zum Lösen. Du löst es. Bevor du ein weiteres Puzzle lösen darfst, hast du die Wahl:

Entweder du bekommst drei Minuten, um weitere Rätsel zu üben, oderdu bekommst drei Minuten, um zu reflektieren, was du gerade getan hast und wie du dich verbessern kannst.

Wenn du wie die meisten Menschen bist, wählst du wahrscheinlich die erste Option. Forscher um Giada Di Stefano von der Universität Bocconi in Italien haben ein Experiment durchgeführt. In diesem Experiment zeigte sich, dass 82 % der Befragten die erste Option wählen.

Was die meisten jedoch nicht wissen – und was die Studie belegt:

Die zweite Option ist oft die bessere Wahl. Die Reflexionsgruppe schnitt in den nachfolgenden Runden des Mathematikrätsels besser ab als die Praxisgruppe und die Kontrollgruppe.

Somit können wir festhalten, dass Reflexion ein mächtiges Werkzeug für das Lernen und Arbeiten ist. Dies gilt im Vergleich zum bloßen Sammeln weiterer Praxiserfahrung. Eine Voraussetzung dafür ist die Art der Reflexion. Wie Reflexion praktiziert wird, spielt eine wesentliche Rolle für ihre Effektivität. Das bloße Nachdenken im Gegensatz zum strukturierten Reflektieren, das auch das Aufschreiben von Gedanken einschließen kann, beeinflusst die Lerneffekte unterschiedlich.

Wie können wir diese Einsicht in unserer Arbeit nutzen?

Wir sollten einen strukturierten Ansatz zur Reflexion nutzen, der uns ermöglicht, unsere Gedanken schrittweise aufzuschreiben.

Wie das geht, hat Terry Borton beschrieben. Terry Borton ist ein amerikanischer Schullehrer. Er schrieb 1970 das Buch „Reach, Touch, and Teach“. Borton ist der Meinung, dass eine reflektierte Praxis auf drei einfachen Fragen beruht. Diese Fragen lauten: „What?“, „So what?“ und „Now what?“. Wir können diese Fragen nutzen, um über vergangene Erfahrungen oder Ereignisse nachzudenken. Dann können wir bessere Entscheidungen treffen.

Die drei Schritte im Detail:

Schritt 1: Beschreibung der Ereignisse mit der Frage „Was?“:

Mögliche Fragen hierfür:

Was war deine Erfahrung?Was ist passiert, wenn du dich nur auf die tatsächlichen Fakten konzentrierst?Was ist dir besonders aufgefallen?Was hat gut funktioniert und was nicht?Wer war noch beteiligt?Was hast du getan?Welche Daten oder Informationen waren damit verbunden?

Schritt 2: Analyse des Verhaltens mit der Frage „Wozu war das wichtig?“:

Mögliche Fragen hierfür:

Wie hast du dich gefühlt, als es passiert ist?Was könnte der Grund für deine Reaktion gewesen sein?War dieses Ereignis Teil eines umfassenderen Musters?Was hat dieses Ereignis verursacht?Warum haben sich andere Menschen möglicherweise so verhalten, wie sie es taten?Welche weiteren Erkenntnisse oder Hypothesen lassen sich aus der Erfahrung und den Daten ableiten?

Schritt 3: Planung der Zukunft mit der Frage „Was jetzt?“:

Mögliche Fragen hierfür:

Welche Lehren kannst du für ähnliche oder andere Kontexte ziehen?Wie kannst du in einer ähnlichen Situation negative Ergebnisse oder Probleme verhindern?Was würdest du anders machen, wenn eine ähnliche Situation erneut eintreten würde?Wie könntest du dich besser auf eine ähnliche Situation vorbereiten?Wie kannst du dein Verständnis oder deine Hypothesen durch Tests oder Experimente überprüfen?

Warum hilft uns diese Methode, bessere Entscheidungen zu treffen?

Um diese Frage zu beantworten, hilft es uns, zu verstehen, was in Entscheidungssituationen im Gehirn passiert.

Dieser Prozess ist als Inferenzleiter bekannt und geht auf die Arbeiten des Psychologen, Wirtschaftswissenschaftlers und Yale-Professors Chris Argyris zurück.

Hier die Schritte im Detail:

Beobachtbare Daten und Erfahrungen: Hier beginnt alles mit der direkten sensorischen Information – was wir sehen, hören, fühlen usw.Auswahl von Daten: Auf dieser Stufe wählen wir bewusst oder unbewusst bestimmte Daten, die wir für relevant halten, aus der Gesamtheit der beobachteten Daten aus.Zuschreibung von Bedeutung: Die ausgewählten Daten werden interpretiert; wir beginnen, ihnen eine persönliche Bedeutung zuzuschreiben.Annahmen treffen: Auf Basis dieser Interpretationen treffen wir Annahmen, oft ohne uns dessen bewusst zu sein.Schlussfolgerungen ziehen: Aus den Annahmen ziehen wir Schlussfolgerungen.Überzeugungen entwickeln: Die Schlussfolgerungen festigen sich zu Überzeugungen.Handeln: Letztlich beeinflussen unsere Überzeugungen unser Handeln.

Wenn wir „What?“, „So what?“ und „Now what?“ bei Entscheidungen verwenden, wird uns der Prozess des Entscheidens bewusst. Diese Bewusstmachung kann helfen, besser zu entscheiden, da wir keine voreiligen Schlüsse ziehen. Sie kann auch Kommunikationsprobleme in Diskussionen und Meetings reduzieren, indem sie aufzeigt, wie unterschiedliche Interpretationen derselben Daten zu Missverständnissen oder Konflikten führen können.

Wo lässt sich diese Reflexionsmethode nutzen?

Nach meiner Erfahrung ist diese Methode universell einsetzbar. Da sie so einfach ist, nutze ich sie fast täglich. Hier drei Beispiele zur Inspiration:

Persönliche Reflexion: Als Scrum Master treffen wir täglich viele Entscheidungen. Dabei treffen wir die meisten dieser Entscheidungen intuitiv oder aus dem Bauch heraus. Dass ich damit nicht immer die besten Entscheidungen treffe, steht außer Frage. Um innezuhalten, bevor ich entscheide, nutze ich die drei Fragen fast täglich. Ich hoffe, dadurch durchdachter zu entscheiden. Diese Methode wende ich bei wichtigen Entscheidungen an.

Sprint-Retrospektiven-Format: Die „‚What?‘, ‚So what?‘ und ‚Now what?‘“-Methode eignet sich für jede Art von Retrospektive. Ich nutze sie als Format für Sprint-Retrospektiven. Zuerst lasse ich jede Frage individuell beantworten. Dann sollen die Antworten kurz vorgestellt werden. Zum Schluss lasse ich Cluster bilden.

In Scrum-Trainings: Am Ende des „Professional Agile Leader – Evidence Based Management“-Trainings lade ich die Teilnehmer zu einer gemeinsamen Reflexion ein. Zuerst lasse ich sie Gruppen von drei bis vier Personen bilden. Anschließend stelle ich jede der drei Fragen einzeln vor. Den Gruppen gebe ich jeweils drei Minuten Zeit, um die Fragen zu beantworten.

Wie kannst du in Zukunft auch bessere Entscheidungen treffen?

Wenn du das nächste Mal vor einer Entscheidung stehst oder dein Wissen vertiefen willst, dann stelle dir diese drei Fragen:

„Was?“ Schreibe auf, was in der Vergangenheit geschehen ist.Dann frage dich: „Wozu war das wichtig?“, um zu analysieren, was geschehen ist, und um Lehren daraus zu ziehen.Stelle dir zuletzt die Frage: „Was jetzt?“, um deine nächsten Schritte festzulegen.

 

Nun bist du dran…

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